Was ist eine Stimmstörung?
Ein quirliges Mädchen mit seiner charakteristisch heiseren Stimme; ein sportbegeisterter Junge,der immer am Tag nach dem Fussball-Training kaum noch eine Stimme hat, aber auch sonst mit gepresster, rauer Stimme spricht; die Lehrerin, die nach einer Erkältung für mehrere Wochen krankgeschrieben werden muss, da ihre Stimme sich von der Erkältungsheiserkeitnicht mehr erholt hat…
Kennen Sie solche Beispiele aus Ihrem Schulalltag? Die Logopädin* wird hier hellhörig – denn in diesen Fällen liegt eine Stimmstörung (Dysphonie) vor. Was das denn sei, werde ich oft gefragt. Grob gesagt besteht eine Stimmstörung bei Heiserkeit oder Stimmlosigkeit; problematischkann sie werden, wenn sie nicht von alleine verschwindet. Und wie steht es mit dem Drittsek-Schüler, der unter seinen Kollegen der einzige ist, der noch mit knabenhaft hoher Stimme spricht?
Ärztliche Abklärung und logopädische Therapie
Eine länger als drei Wochen dauernde Heiserkeit sollte durch einen Hals-Nasen-Ohrenarzt oder noch idealer durch einen Phoniater* (auf Stimme spezialisierter HNO-Arzt) abgeklärt werden. So können Ursache und Behandlungsweg bestimmt werden. In seltenen Fällen können der Heiserkeit ernste Ursachen zugrunde liegen, daher die Notwendigkeit einer ärztlichen Untersuchung, auch wenn die Heiserkeit nicht als störend empfunden wird. Stimmuntersuchungen sind bei Kindern manchmal schwer durchführbar. Bei ihnen sollte insbesondere eine plötzlich auftretende Heiserkeit ohne ersichtlichen Grund (Erkältung, kurzfristige Stimmüberlastung) spezialärztlich abgeklärt werden. Ist ein Kind lange heiser, haben sich an seinen Stimmlippen meist kleine Verdickungen gebildet: Stimmlippenknötchen. Sie entstehen durch schlechte Stimmtechnik und Überbeanspruchung der Stimme (Schreien). Bei Mädchen bleiben sie oftmals bis ins Erwachsenenalter bestehen, genauso wie die ungünstige Stimmtechnik: Die Stimme klingt dauerhaft heiser, mal mehr, mal weniger ausgeprägt. Durch die mangelhafte Belastbarkeit der Stimme geraten Erwachsene – gerade solche in Sprechberufen wie Lehrpersonen – oftmals in einen Leidensdruck. Das Sprechen ist anstrengend, die Stimme ermüdet rasch, wird noch heiserer oder versagt ganz. Tragfähiges Sprechen bei Hintergrundgeräuschen (Turnhalle, Restaurant, Party) gelingt nicht und ein erzwungener sozialer Rückzug kann die Folge sein. Dass auf die Stimme kein Verlass mehr ist, bedeutet eine grosse psychische Belastung, erst recht, wenn die Berufsausübung in Frage gestellt ist. Da die Stimmgewohnheiten im Erwachsenenalter bereits eingeschliffen sind, ist eine Therapie dann aufwändiger, als wenn sie bereits im Kindesalter greifen kann. Dasselbe gilt für Knaben; zwar verlieren sich die Knötchen interessanterweise mit dem Stimmbruch, ungünstige Stimmgewohnheiten aber können bleiben.
Wenn Kind und Eltern die Heiserkeit als störend empfinden, besteht die Möglichkeit, in der logopädischen Therapie spielerisch Übungen zu einer ausgeglichenen Körperspannung, einer guten Atemführung und einem differenzierten Einsatz der Stimme einzusetzen. Zur Therapie gehört wesentlich eine Beratung der Bezugspersonen, um das Bewusstsein für Stimmgewohnheiten in Familie und Freizeit zu wecken. Neu gibt es Hilfsmittel, welche das direkte Einwirken auf Stimme und Atmung ermöglichen (s. Bilder). Dadurch werden Atemfluss und Stimmlockerung sichtbar und wahrnehmbar, das Hilfsmittel kann für häusliches Üben nach Hause genommen werden. Auch die Lehrperson kann es zum Aufwärmen und Schulen der Sprech- und Singstimme anwenden, in der Klasse oder für sich selber. Meiner Erfahrung nach werden so innert kurzer Zeit gute Therapie-Erfolge erzielt. Voraussetzung für eine erfolgreiche Stimmtherapie bei Kindern ist jedoch, dass das Kind die Stimme verbessern möchte und dass die Eltern dies unterstützen, denn sie tragen die Verantwortung für das Umsetzen neuer Stimmgewohnheiten im Alltag wesentlich mit. Eine gute Zusammenarbeit mit der Lehrperson ist natürlich ebenfalls von Vorteil.
Logopädische Stimmtherapie und soziales sowie strukturelles Umfeld
Heiserkeit bei Kindern wird vom Umfeld oft nicht bewusst wahrgenommen: Eltern und Lehrpersonen sagen, das Kind spreche schon immer so. Schulische Logopädinnen haben oft Wartelisten, daher müssen in der Auswahl der Kinder Prioritäten gesetzt werden. Die Bedürfnisse von Kindern mit Störungen der Sprache stehen zuoberst, weil ihre Problematik das Bewältigen des Schulstoffes erschwert, was bei einer Stimmstörung weniger der Fall ist. Logopädinnen ausserdem, welche sich im Fachgebiet «Stimme» nicht eigenständig weitergebildet haben, trauen sich die logopädische Therapie von kindlichen Stimmstörungen oftmalsnicht zu. Dadurch bleiben die Stimmen oft unbehandelt und wir Logopädinnen bekommen sie dann mit grosser Wahrscheinlichkeit im Erwachsenenalter wieder aus der Praxis des HNOArztes oder Phoniaters überwiesen.
Ausbleibender Stimmbruch
Wenn Knaben am Ende ihrer obligatorischen Schulzeit noch immer in ihrer Knabenstimme sprechen, so muss dies nicht zwingend eine Stimmstörung bedeuten; das Alter, in welchem der Stimmbruch (Mutation) stattfindet, ist sehr individuell. Sollte die Knabenstimme aber so lange beibehalten werden, dass der Stimmklang auf das Umfeld befremdlich wirkt oder der junge Mann unter stimmlichen Beschwerden leidet (Kratzen im Hals, stimmliche Anstrengung), sollte spätestens mit 18 Jahren eine spezialärztliche Untersuchung durchgeführt werden. Es kommt vor, dass das Kehlkopfwachstum abgeschlossen ist, die Voraussetzungen fürden Stimmbruch also da sind, und trotzdem weiterhin in der gewohnten Knabenstimme gesprochenwird (Mutatio incompleta). Hier kann die Logopädin oftmals innerhalb einer Stunde zur Männerstimme verhelfen – zur Überraschung und Freude aller.
*Der Einfachheit halber wird die männliche oder weibliche Form verwendet – selbstverständlichsind Ärztinnen und Phoniatrinnen sowie Logopäden mitgemeint.
von Aline Camenzind, Studio für Stimme Stein am Rhein